Interview zur Fortbildung FASD Fachkraft
Das Vinzenzwerk Handorf e.V. als anerkannter Träger der Kinder- und Jugendhilfe Münster befasst sich seit vielen Jahren mit der Betreuung von Kindern mit einer Fetalen Alkoholspektrumstörung-FASD. Die gravierende Schädigung des zentralen Nervensystems entsteht durch mütterlichen Alkoholkonsum während der Schwangerschaft. Die lebenslangen neuronalen Schäden können sowohl auf die körperlichen, kognitiven und sozial/emotionalen Bereiche einwirken. In Deutschland leben ca. 1.600.000 Menschen mit einer FASD Diagnose. Ca. 80 % der Menschen benötigen ein Leben lang Unterstützung u.a. in ihrer Lebensführung, beruflichen Eingliederung und Gesundheitsfürsorge. In den Kinderheimen und Adoptiv- und Pflegefamilien sind 25 % der Kinder diagnostiziert. Nahezu alle diese Menschen benötigen eine intensive Betreuung und Menschen um sie herum, die sowohl Wissen um die Diagnose und deren Auswirkungen haben und Handlungsstrategien, die bisher nicht in den Ausbildungen und Studiengängen vermittelt werden erarbeiten können.
Herr Paßlick , wie kam es zu der Entscheidung eine Weiterbildung zur FASD Fachkraft im Vinzenzwerk Handorf e.V. anzubieten?
Bernhard Paßlick (Geschäftführer Vinzenzwerk Handorf):
Die FASD Thematik bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen beschäftigt uns bereits viele Jahre im Vinzenzwerk Handorf e.V. Die Betreuung der jungen Menschen stellt uns als Einrichtung vor besondere Herausforderungen. In einem ersten Schritt haben wir uns im Jahr 2018 entschieden eine intensivpädagogische Wohngruppe für Kinder mit fetaler Alkoholspektrumstörung , Trauma und/oder Autismusspektrumstörungen aufzubauen. Herr Neier kehrte mit seiner FASD Expertise im April 2019 zu uns ins Vinzenzwerk Handorf e.V. zurück mit dem Auftrag, das Thema FASD in den Fokus zu nehmen und zu entwickeln. Im August 2019 konnten wir die Gruppe ‚Moritzburg‘ eröffnen. In einer ersten Bestandsaufnahme wurde der große Handlungsbedarf in der gesamten Einrichtung überaus deutlich. Nicht nur in der Intensivwohngruppe lebten Kinder mit einer FASD Diagnose, sondern ausnahmslos in allen Wohngruppen. Wir bilanzierten, dass viele der pädagogischen KollegInnen im Vinzenzwerk im adäquaten Umgang mit den Folgen von FASD fort und weitergebildet werden mussten. Herr Neier fokussierte sich in der ersten Zeit auf Teamberatung, Fortbildung und Coaching der Kollegen. Je mehr wir uns dem Thema öffneten, desto mehr von FASD betroffene Kinder konnten wir erkennen. In der Kooperation mit der FAS Ambulanz in Walstedde konnten wir diesen Menschen nach und nach zu einer Diagnose verhelfen. Der Alltag in einer Wohngruppe stellte auch mit Diagnose für viele Kinder und PädagogInnen eine Herausforderung dar. Einige unserer PädagogInnen nahmen an der Weiterbildung zur FASD Fachkraft der FH Münster teil. Die Coronopandemie bremste die positive Entwicklung zunächst einmal wieder ein. Im Sommer 2022 war es endlich möglich, den Faden wieder aufzunehmen. Zwischenzeitlich ist uns auch in der Zahl der Aufnahmeanfragen vor Augen geführt worden, wie groß der Handlungsbedarf und die Unterversorgung mit geeigneten Plätzen in der Jugend und Eingliederungshilfe ist. Bei der Lektüre der Aufnahmeunterlagen sind die nahezu gleichen biographischen Verläufe sichtbar: späte oder keine Diagnose, Drehtürkinder, Obdachlosigkeit, schwere impulsive Ausbrüche, Trauma, Bindungsstörung... Eine dramatische Liste und leider auch die Dokumentation unseres Versagens der Hilfe. Hier bin ich selbstkritisch genug, dass auch Kinder in unserer Einrichtung zu sogenannten ‚Systemsprengern‘ wurden. Wir konnten und wollten der Frage nach dem ‚Wie denn jetzt weiter?‘ nicht mehr ausweichen. Die uns anvertrauten Kinder haben das Recht und wir die Pflicht den Kindern einen angemessen an Ihre Stärken orientierten Entwicklungsraum zu bieten. Die Initiative für eine eigene Weiterbildung im Vinzenzwerk Handorf e.V. startete.
Herr Paßlick , wie Sie oben erwähnten gibt es an der Fachhochschule in Münster bereits eine Weiterbildung zur FASD Fachkraft Wieso eine zweite Weiterbildung zum gleichen Thema im Vinzenzwerk Handorf e.V.?
Bernhard Paßlick:
Völlig korrekt. Dort haben auch einige unserer pädagogischen KollegInnen die FASD Weiterbildung absolviert. Unser Bedarf ist insgesamt aber so hoch, dass es uns als Träger nicht kurzfristig möglich ist, diesen Bedarf durch externe Weiterbildungen gerecht zu werden. Zudem haben wir mit Herr Neier einen Kollegen, der im Rahmen seiner freiberuflichen Tätigkeit eine breite Expertise in Sachen Aufbau von FASD Weiterbildungen und Fortbildungen hat. Frau Thyhatmer als weitere Kollegin und Herr Neier arbeiten seit Jahren gemeinsam im stationären Bereich und in der Fort und Weiterbildung. Diese Win-Win Situation führte zu der Entscheidung, dass wir als Träger ein eigenes Weiterbildungsangebot entwickelt haben. Unsere FASD Weiterbildung stellt inhaltlich keine Dopplung zum Angebot der Fachhochschule dar. Unsere Weiterbildung hat den Schwerpunkt auf die alltägliche Umsetzung der Teilhabe gelegt. Unser primäres Ziel ist gemeinsam mit den Teilnehmenden FASD spezifische Handlungs und Haltungsentwicklung zu fördern. Nach diesen Kriterien haben wir die ReferentInnen ausgesucht. Wir verstehen das Angebot der Fachhochschule mit der Zielrichtung Beratung von Menschen in der Betreuung von FASD. Diese Ausrichtung ist gleichermaßen wichtig entsprechende ist die Weiterbildung der FH auch ständig ausgebucht. Das soll auch unbedingt so bleiben. Unsere Erfahrung hat gezeigt, dass Beratung ein wesentlicher Faktor ist es bedarf über das Maß, was Beratung leisten kann, mehr für die Kollegen in den Wohngruppen, um deren Handlungsfähigkeit und Handlungssicherheit zu stärken. Nur so können wir unserem Auftrag und unserem Selbstverständnis als gute Unterstützer und Wegbereiter
gerecht werden.
Herr Neier, Herr Paßlick erwähnte bereits Ihre Erfahrungen in der Entwicklung von FASD Fachkraft Weiterbildungen wie wirkt sich das auf die Weiterbildung im Vinzenzwerk Handorf e.V. aus?
Ralf Neier:
Wir arbeiten an den 18 Weiterbildungstagen innerhalb von 10 Monaten aktiv an der Förderung der Handlungs und Haltungskompetenzen der Teilnehmenden. Um diese Aspekte effektiv fördern und im besten Fall entwickeln zu können braucht es verschiedene Bereiche. Der erste große Teil ist das Wissen über FASD und die resultierenden möglichen Schäden des zentralen Nervensystems. Gleichermaßen ist aber auch Wissen über die häufigen ‚Begleitdiagnosen‘ wie Trauma, Bindungsstörung und ADHS erforderlich. Wissen hilft uns im ersten Schritt selbst Halt zu haben und erleichtert uns den Blick auf den sogenannten ‚guten Grund des Verhaltens der Menschen mit FASD‘. Im Verlauf der Weiterbildung nehmen wir intensiv das Thema ‚eigene Haltung‘ in den Focus. Wir beschäftigen uns u.a. mit Themen wie ‚Inklusion‘, ‚meine Glaubenssätze‘, ‚meine Stärken‘, ‚meine guten Gründe…‘ mit dem Ziel der Haltungsstärkung und/oder änderung. Der abschließende Teil ist die Handlungsorientierung. In meinem beruflichen Alltag habe ich immer wieder die eigene Ohnmacht erlebt und erlebe heute die Ohnmacht vieler KollegInnen, Pflege oder Adoptiveltern. Diese Ohnmacht führt nicht selten zu einer traumatischen Erfahrung bis hin zum Burnout. Also gravierende Folgen für die Betreuenden und in gleichem Maße für die Menschen mit FASD. Mit dem erweiterten Wissen, mit der gestärkten und/oder veränderten Haltung entwickeln wir gemeinsam Handlungsansätze und überprüfen diese wieder. Dabei ist ein ‚Scheitern‘ erlaubt gemeinsam werden wir weitersuchen und Strategien finden und ausprobieren. Es braucht ein FASzinierenDes Dorf! In den vergangenen Weiterbildungen wuchs die Teilnehmergruppe schnell zu diesem Dorf zusammen.
Frau Thyhatmer und Herr Neier, können Sie uns etwas zu den Themen sagen?
Ralf Neier:
Nina als ausgebildete Video Home Trainerin (Spin) wird uns den ressourcenorientierten Ansatz des Videocoaching näherbringen. Sie hat sowohl im Rahmen ihrer Ausbildung als auch in der Arbeit viele Erfahrungen sammeln können und gemeinsam mit Menschen mit FASD aber auch mit deren betreuenden Personen anhand von Videosequenzen deren Handlungsfähigkeit stärken können. Nina wird uns mit den Bildern faszinieren. Es gibt die Möglichkeit im Rahmen der Weiterbildung eigenen
Fragestellungen im Rahmen des Videocoaching einzubringen und konkret zu bearbeiten.
Nina Thyhatmer:
Neben den wichtigen Sachinformationen über FASD, Diagnostik und medizinische Grundlangen (Philipp Wenzel, FAS Ambulanz, Walstedde), Trauma (Jutta Scholz, Vinzenzwerk Handorf e.V.), FASD und Sexualität (Nadine Mecklenbrauck , Vinzenzwerk Handorf e.V.) Zugänge zu den Sozialgesetzbüchern und Einsatz von Hilfsmitteln (Kerstin Held, Vorsitzende des Bundesverbandes behinderter Pflegekinder, Ergotherapeutin) etc. ist ein wichtiger Schwerpunkt der Weiterbildung die Handlungsorientierung. Wir werden uns mit unseren bereits bestehenden Netzwerken beschäftigen und dieses Dorf vergrößern. Was uns besonders freut ist, dass es uns gelungen ist das Thema ‚Neurodeeskalation‘ für einen Block nach Münster zu holen. Dieser Block wird sicher eines der Handlungs und Haltungshighlights der Fortbildung. Neurodeeskalation wird federführend von Elke und Christian Göttle in Graz/Österreich (www.ressourcenreich.at) entwickelt. Ralf und ich konnten im vergangenen Jahr an der Fortbildung in Regensburg teilnehmen. Wir waren beide so begeistert! Es ist ein weiteres wichtiges Puzzleteil in der Begleitung und im Verständnis von Menschen mit Regulationsschwierigkeiten. Die drei Tage innerhalb unserer Weiterbildung sind gleichzeitig auch die Grundlage für eine mögliche Weiterbildung zum TrainerIn Neurodeeskalation. Mit der Weiterbildung zur FASD Fachkraft im Vinzenzwerk Handorf e.V. erwerben alle Teilnehmenden eine weitere
wertvolle Qualifikation. Weiter werden wir uns inhaltlich mit den Möglichkeiten tiergestützter Angebote befassen und dabei Einsatzmöglichkeiten mit Pferden (Janina Schleese , Vinzenzwerk Handorf e.V.) und Hunden (Bianka Niemeyer und Astrid Exner, www.assistenzhundetrainerinbibi.de) erleben. Da Humor nicht nur Heilen hilft, sondern uns auch im Handeln stärkt, wird uns im letzten Block die Clownin Henriette Hansen mit auf eine humorvolle und selbstwirksame Reise nehmen. Und eine gute FASD Fortbildung kann es bei uns ohne Menschen mit FASD nicht geben. Getreu dem Motto: ‚Nothing about us without us ‘ werden Clara und Luise Andrees die FASD Twins aus der Nähe von Potsdam, Heilerziehungspflegerinnen und
FASD Fachkräfte thematisch begleiten und wichtige Innenansichten vermitteln. Über Inklusion zu reden ist das eine Inklusion zu leben werden wir erleben. Die weiteren ReferentenInnen können Sie dem verlinkten Flyer und der Homepage entnehmen. Ebenso finden Sie dort die Informationen und den Button zur Anmeldung.